22

 

Jeder lügt, an jedem einzelnen Tag seines Lebens. Diese Unwahrheiten müssen nach Ausmaß, Zweck und Nutzen unterschieden werden. Falschheiten sind zahlreicher als die Organismen aller Meere der Galaxis. Warum also werden wir Tleilaxu als betrügerisch und nicht vertrauenswürdig angesehen und andere Menschen nicht?

Rakkeel Ibaman,

ältester lebender Tleilaxu-Meister

 

 

Bronso sah hilflos zu, wie sein Vater erlaubte, dass die Hexen seine Mutter zu ihrer fernen Welt brachten. Nachdem zwei scheinbar endlose, schmerzvolle Tage vergangen waren, gab es keine bessere Alternative. Obwohl er jede esoterische Suk-Therapie ausprobiert hatte, war Dr. Yueh nicht in der Lage gewesen, etwas gegen Tessias geistige Lähmung zu tun.

Tessia befand sich offensichtlich in einem schrecklichen, verzweifelten Zustand, aus dem sie nicht erwachen konnte. Und die Bene Gesserit behaupteten, ihr helfen zu können.

Bronso wusste, wem die Schuld zu geben war. Die Technokraten hatten etwas mit ihrem Geist angestellt, dessen war er sich ganz sicher. In den vergangenen Jahren hatten die rücksichtslosen Bürokraten mehrfach, wenn auch erfolglos versucht, Bronsos Vater loszuwerden. Erst vor wenigen Tagen hatten sie Bronsos Kletterausrüstung sabotiert, in der Hoffnung, dass es zu einem tödlichen Unfall kam. Jetzt hatten die Feinde des Hauses Vernius einen Weg gefunden, seine Mutter zu treffen ...

Die Befragung des entrüsteten Bolig Avati erbrachte nichts Verwertbares, obwohl der Anführer der Technokraten zugab, dass die Geschäfte reibungsloser laufen würden, wenn Ix »nicht durch archaische aristokratische Traditionen behindert« würde. Aber es gab keinen Beweis, der ihn mit irgendeinem der Sabotage- oder Mordversuche in Verbindung brachte.

Während Yueh vergeblich versuchte, Tessia wiederzubeleben, überließ ein bestürzter Rhombur Duncan Idaho und Gurney Halleck die vollen Ermittlungsbefugnisse. Gemeinsam mit den Wachen des Hauses Vernius durchsuchten sie die ixianischen Forschungseinrichtungen, beschlagnahmten Testberichte und Prototypen aus den Entwicklungsabteilungen, brachen die Türen zu Hochsicherheitsbereichen auf – und fanden einen toten Forscher.

Ein Mann namens Talba Hur, ein einzelgängerisches Genie mit Neigung zum Jähzorn, lag mit gebrochenem Genick und brutal eingeschlagenem Schädel in seinem verschlossenen Labor, auf der Asche verbrannter Forschungsunterlagen und Auswertungen. Nach dem einzigen bekannten Bericht über seine Arbeit hatte Talba Hur eine technische Methode entwickelt, den menschlichen Geist auszulöschen oder in seiner Funktion zu stören. Ein solches Gerät war vielleicht eine Erklärung für das, was mit Tessia geschehen war.

Rhombur hatte keinen Beweis, keine unmittelbaren Verdächtigen ... und keine Zweifel. Aber nicht einmal damit konnte er etwas zur Heilung seiner Frau beitragen. Die Tragödie war geschehen, und Yueh war nicht in der Lage, irgendetwas für sie zu tun.

Nur die Bene Gesserit konnten eine vorsichtige Hoffnung anbieten, auch wenn sie es anscheinend ohne jedes Mitgefühl taten. Verzweifelt sah Bronso zu, wie die drei dunkel gewandeten Schwestern eilig seine Mutter fortbrachten, als wäre sie ein Paket, das ausgeliefert werden musste. Er konnte ihre Art nicht ausstehen. Der junge Mann hatte sich bereits von ihr verabschiedet und dabei gegen seine Tränen angekämpft. Die Bene Gesserit hatten ihn einfach zur Seite geschoben und Tessia fortgeschafft. Bronso glaubte, einen wissenden Blick in ihren Augen gesehen zu haben, der seiner Vermutung nach bedeutete, dass sie eine ganz spezielle Behandlung für sie im Sinn hatten.

Trotzdem fragte er sich, ob er ihnen wirklich vertrauen konnte.

Bolig Avati stand ebenfalls in der Gruppe und hatte einen einstudierten bekümmerten Gesichtsausdruck aufgesetzt. »Mylord, vielleicht wäre es das Beste, wenn Sie sich eine Zeit lang aus der Öffentlichkeit zurückziehen.« Avati schien vor Aufrichtigkeit zu triefen. »Ruhen Sie sich aus, und verbringen Sie viel Zeit mit Ihrem Sohn.«

Bronso hätte den Vorsitzenden des Rats der Technokraten am liebsten geschlagen. Wie konnte der Mann nur die Gelegenheit ausnutzen, Graf Vernius noch weiter aus der Verantwortung zu drängen? Rhombur stand verloren, vernichtet und sprachlos da – er wusste nicht mehr, was er tun sollte. Ohne sich die Mühe zu machen, Avati zu antworten, starrte Bronsos Vater fassungslos auf die Fähre, als sich die Türen schlossen und das Gefährt zum Startplatz hinaufbefördert wurde.

Jessica und Paul waren ebenfalls anwesend. Sie hielten sich im Hintergrund, waren aber bereit zu helfen, sobald Rhombur ihre Unterstützung brauchte. Angesichts der Tragödie und der Unruhen hatte Jessica vorgeschlagen, dass Paul lieber nach Caladan zurückkehren sollte, damit Bronso und sein Vater ihren Kummer teilen konnten.

Niemand konnte auf irgendeine Weise helfen. Alle Vorurteile und Mutmaßungen Bronsos fielen in sich zusammen. Während seines ganzen Lebens hatte er darauf gebaut, dass sein Vater alle Probleme löste, dass er mit Entschiedenheit herrschte. Jetzt hätte er die Technokraten zu einem Geständnis zwingen oder den Hexen irgendein Versprechen abringen müssen, was ihre beabsichtigte Therapie betraf. Wann konnten sie Tessia besuchen? Wann würden sie etwas über die Behandlung erfahren? Wie wollten die Schwestern ihr helfen?

Doch Rhombur war wie gelähmt und handlungsunfähig – und Bronso war zutiefst verbittert über das Versagen seines Vaters. Und nun war seine Mutter fort, ohne Garantie, dass er sie jemals wiedersehen würde. Der junge Mann verbrachte den Rest des Tages in seinem Quartier, um sich zu grämen und zu toben, und er weigerte sich sogar, Paul zu sehen.

Als Bronso es nicht mehr aushielt, platzte er in das Privatbüro seines Vaters, wo der zusammengeflickte Mann auf einem Spezialstuhl saß. Rhomburs vernarbtes Gesicht konnte nicht mehr die ganze Spannweite menschlicher Emotionen zum Ausdruck bringen, doch nun wischte er sich eine Träne aus dem unversehrten Auge. »Bronso!«

Als er seinen Vater in so tiefer Verzweiflung sah, löste sich der größte Teil seiner Wut in Luft auf. Der bloße Anblick der Skulptur aus Narben und künstlichen Körperteilen, der seltsame Übergang zwischen Polymerflächen und natürlicher Haut, erinnerte Bronso daran, wie viel körperlichen und seelischen Schmerz sein Vater bereits hatte erdulden müssen.

Bronso stockte, aber er hatte immer noch etwas zu sagen, und seine Verzweiflung setzte sich über sein Mitgefühl hinweg. Während des vergangenen Jahres hatte er den Niedergang seines Vaters bemerkt, vor allem hinsichtlich des Respekts, den ihm einflussreiche Mitglieder der ixianischen Gesellschaft entgegenbrachten. Nach den ruhmreichen Geschichten hatte Prinz Rhombur früher erstaunlichen Wagemut und große Beharrlichkeit an den Tag gelegt, als er ins Exil geflohen war, um den Kampf gegen die Invasoren von Tleilax fortzusetzen. Oder waren es nicht mehr als Geschichten? Jetzt empfand Bronso nur noch Verachtung für ihn. Rhombur war in seinen Augen kein Held mehr.

Es platzte aus ihm heraus. »Alle Leute trampeln auf dir herum. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.«

Rhomburs synthetische Stimme gab einen ungewöhnlichen Laut von sich, ein Summen tief in der Kehle. Er schien zu müde zu sein, um sich zu rühren. »Die Schwestern sagten, dass sie helfen können. Was hätte ich sonst tun sollen?«

»Sie haben gesagt, was du hören wolltest – und du hast es ihnen geglaubt!«

»Bronso, das verstehst du nicht.«

»Ich verstehe, dass du schwach und antriebslos bist. Wird noch irgendetwas übrig sein, wenn meine Zeit gekommen ist, Graf zu werden? Oder haben die Technokraten uns dann längst ermordet? Warum lässt du sie nicht verhaften? Du weißt, dass Avati schuldig ist, aber du hast ihn einfach laufen lassen.«

Rhombur erhob sich halb von seinem Stuhl und verzog wütend das Gesicht. »Du bist aufgebracht, deshalb weißt du nicht, was du sagst.« Entmutigt verschränkte er die Hände und streckte die künstliche Haut. Er zögerte, als hätte er Angst weiterzusprechen, bis er schließlich sagte: »Äh, es gibt da noch etwas, das ich dir erzählen wollte, aber deine Mutter und ich haben irgendwie nie den richtigen Zeitpunkt dafür gefunden. Es tut mir leid, dass ich es dir so lange vorenthalten habe. Jetzt bist du alles, was mir noch geblieben ist – bis es deiner Mutter wieder besser geht.«

Mit einer unangenehmen Vorahnung ging Bronso unbeholfen in Abwehrhaltung, um seine Gefühle zu schützen. »Was? Was gibt es, das ich nicht weiß?«

Rhombur sackte wieder auf seinem Spezialstuhl zusammen. »Nachdem mein Körper weitgehend zerstört wurde, konnte ich keine Kinder mehr zeugen, und ich hatte jede Hoffnung auf einen Erben des Hauses Vernius verloren. Tessia hätte zur Schwesternschaft zurückkehren und die Konkubine irgendeines anderen Adligen werden können.« Seine Stimme stockte. »Doch sie blieb bei mir und bestand darauf, dass wir heiraten, obwohl ich ihr nichts mehr bieten konnte. Es gelang uns, die Tleilaxu zu vertreiben und Ix wieder unter unsere Kontrolle zu bringen, aber ich brauchte trotzdem einen Erben, wenn das Haus Vernius nicht von der Bildfläche verschwinden sollte. Also haben wir ...«

Er hielt inne und zwang sich dann zum Weitersprechen. »Weißt du, ich hatte einen Halbbruder ... Vor langer Zeit brachte meine Mutter ein Kind zur Welt, als sie eine Hofkonkubine des Imperators Elrood IX. war, bevor sie deinen Großvater heiratete. Wir waren zumindest zur Hälfte von gleicher Abstammung, also hat Tessia ... sie erhielt, nun ja, eine genetische Probe. Und mit meiner Einwilligung hat sie sie benutzt.«

»Benutzt? Wovon redest du?« Warum konnte sein Vater sich nicht klar ausdrücken?

»Auf diese Weise wurdest du gezeugt. Ich konnte kein eigenes ... Sperma dazu beitragen, aber ich konnte meinen Segen geben. Künstliche Befruchtung.«

Bronso hörte ein Donnergrollen in seinem Kopf. »Du willst mir damit sagen, dass du nicht mein leiblicher Vater bist. Warum sagst du das? Und warum erzählst du es mir erst jetzt?«

»Es spielt keine Rolle, weil du mein Erbe bist. Über meine Mutter, Lady Shando Balut, gehörst du trotzdem zu meiner Blutlinie. Ich liebe dich genauso, als wärst du ...«

Bronso fühlte sich wie vom Donner gerührt. Zuerst hatte er seine Mutter verloren, und nun das! »Du hast mich belogen!«

»Ich habe nicht gelogen. Ich bin in jeder Hinsicht, auf die es ankommt, dein wahrer Vater. Du bist erst elf. Deine Mutter und ich haben auf den richtigen Zeitpunkt gewartet, um ...«

»Und sie ist nicht da. Sie kommt vielleicht nie zurück, wird vielleicht nie wieder gesund. Und nun höre ich, dass du nicht einmal mein richtiger Vater bist!« Seine Stimme war scharf wie ein Dolch. Er kehrte Rhombur den Rücken zu und stürmte aus dem Raum.

»Bronso, du bist mein Sohn! Warte!«

Doch er lief weiter, ohne sich noch einmal umzublicken.

 

Wutschäumend schnappte sich Bronso seine Kletterausrüstung und legte die neuen Haftscheiben und den Suspensorgurt an. Er wollte davonlaufen, ohne ein bestimmtes Ziel im Sinn zu haben. Schwer atmend kämpfte er gegen den Lärm in seinem Kopf und begab sich in ein höher gelegenes Stockwerk des Großen Palais, wo er die geneigten Scheiben aus transparentem Plaz öffnete. Er wollte sich einfach nur bewegen und zwängte seinen Körper durch die Lücke, als der Wind hereinströmte. Ohne groß darauf zu achten, wo er hintrat, sprang Bronso hinaus in die gewaltige Höhlenkammer und kletterte die steile Wand hinauf. Er hatte keine Angst, weil er nichts mehr zu verlieren hatte.

»Bronso, was tust du da?«

Er blickte zum Fenster hinunter, das er offen gelassen hatte, und sah den Kopf von Paul Atreides, der zu ihm hinaufschaute. Ohne seinen Freund zu beachten, kletterte er weiter. Er konnte sich nicht vorstellen, jemals weit genug weg zu sein.

Doch wenige Augenblicke später sah er, wie Paul ihm mit seiner eigenen Ausrüstung folgte. Er bewegte sich etwas unbeholfen, aber mit erstaunlichem Tempo. Verärgert brüllte Bronso: »Dazu bist du nicht gut genug. Ein Fehler, und du stürzt ab!«

»Dann mache ich eben keinen Fehler. Wenn du hier bist, bleibe ich bei dir.« Während Bronso dahing, holte Paul ihn keuchend ein. »Das hier ist genauso wie an den Meeresklippen.«

»Was machst du hier? Ich will dich nicht bei mir haben. Ich will allein sein.«

»Ich habe versprochen, auf dich aufzupassen. Wir sind einander verpflichtet, weißt du noch?«

Paul sah ihm mit solcher Ernsthaftigkeit in die Augen, dass Bronso sich geschlagen geben musste und sich einverstanden erklärte, ihn langsam und vorsichtig zurück ins Innere des Palais zu begleiten. »Du musst dich sowieso nicht mehr an dein Versprechen gebunden fühlen. Du kehrst schon bald nach Caladan zurück – und ich werde immer noch hier sein und mit lauter Lügen leben müssen.«

Paul betrachtete ihn völlig ruhig. »Dann sollten wir jetzt darüber reden, solange wir noch die Gelegenheit dazu haben.«

In Bronso stauten sich immer stärkere Emotionen auf, aber er war nicht bereit, seine Verwirrung und Scham einzugestehen. »Schwöre bei unserer Ehre«, forderte er Paul auf, »dass du niemandem weitererzählst, was ich dir zu sagen habe. Ich muss mir ganz sicher sein, dass ich dir vertrauen kann.«

»Dir sollte klar sein, was Ehre für einen Atreides bedeutet.« Paul gab ihm sein Wort, und nachdem sie in Bronsos Privatzimmer zurückgekehrt waren und die Tür versperrt hatten, saßen sie sehr lange zusammen. Fern von allen anderen Menschen berichtete Bronso, was er von Rhombur erfahren hatte. Gedankenverloren starrte der rothaarige Junge auf die funkelnde Höhlenstadt hinaus. »So sieht es also aus. Meine Mutter ist fort, und mein inkompetenter Vater ist in Wirklichkeit gar nicht mein Vater. Ich bin nicht einmal ein richtiger Vernius! Auf Ix habe ich nichts mehr zu suchen. Ich gehöre nicht hierher.« Er raffte seinen ganzen Mut zusammen. »Ich werde von zu Hause weglaufen, und niemand kann mich daran hindern – weder Rhombur noch seine Wachen, niemand!«

Paul stöhnte. »Ich wünschte, du hättest mir nicht gesagt, was du tun willst.«

»Warum? Willst du mich aufhalten? Du hast geschworen, mein Geheimnis zu wahren!«

Paul bemühte sich, seinen Interessenskonflikt so gut wie möglich zu lösen. »Das Versprechen, das ich dir gegeben habe, ist klar. Ich werde dich nicht verraten oder jemandem sagen, was du vorhast. Aber gleichzeitig habe ich meinem Vater versprochen, auf dich achtzugeben. Ich darf nicht zulassen, dass du einfach verschwindest oder dich in Lebensgefahr bringst, also werden wir zusammen gehen. Und jetzt sag mir, wohin du flüchten willst.«

»So weit weg von Ix wie irgend möglich.«

Dune 02,5 - Stürme des Wüstenplaneten
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